Freiheit | Geistlicher Impuls | 09.03.2022

Freiheit | Geistlicher Impuls | 09.03.2022

Es gibt kaum einen Menschen auf der Welt, dem das Wort „Freiheit“ nicht bekannt ist. Ob Europäer, Amerikaner, Asiate, Afrikaner – sie können unterschiedliche Vorstellungen haben, sobald es ihnen zu Ohren kommt. Eines ist dabei nicht umstritten – für viele ist dieses Wort selbstverständlich. Doch für mich, wie auch für alle Ukrainer, nicht. Schon seit fast zwei Wochen kommen weltweit die Gespräche über die Invasion Russlands in der Ukraine allen über die Lippen. Während vielen dieses Thema den Anlass zum Austausch und zu den Diskussionen gibt, ist unsere Trauer, unser Leid abgrundtief und schier endlos. Zur Vergegenwärtigung hänge ich einen ins Deutsche übersetzten Bericht an:

Der 13. Kriegstag

Russische Truppen bombardieren und beschießen weiterhin ukrainische Städte, darunter Wohngebiete und Kindereinrichtungen.

In der Nacht des 8. März bombardierten russische Flugzeuge Sumy und Okhtyrka in der Region Sumy. Mindestens neun Menschen wurden getötet, darunter zwei Kinder.

Die Stadt Bucha in der Region Kiew wird tatsächlich belagert, weil die russischen Besatzer die Straßen bombardieren und den Menschen keine Möglichkeiten geben, aus der Stadt wegzufahren.

Die Situation in den Städten Ochtyrka und Trostjanez (Gebiet Sumy), Mariupol (Gebiet Donezk) und im Gebiet Cherson ist am Rande der humanitären Katastrophe.

Die Ukraine verlangt, den Luftraum zu schließen und humanitäre Korridore für die Evakuierung von Zivilbevölkerung zu ermöglichen.

Trotz der bewaffneten Aggression Russlands, verlieren die Ukrainer nicht den Geist und die Stärke des Glaubens. Seit Beginn des Krieges wurden in verschiedenen Teilen der Ukraine 4311 Babys geboren.

Der Internationale Gerichtshof der Vereinten Nationen in Den Haag hat heute mit Anhörungen im Fall der Klage der Ukraine gegen Russland, wegen Vorwürfen des russischen Völkermords, wegen der kriminellen Invasion in der Ukraine, begonnen.

Vor ein paar Tagen wurden zwei Babys hierhergebracht, die im Bunker geboren wurden. Sie sind Waisenkinder und wurden von einer Familie adoptiert. Den ukrainischen Angaben zufolge gibt es bereits siebzig solcher Babys… Viele Frauen sehen verzweifelt ihren Babys in den Kellern bombardierter Städte beim Sterben zu. Ohne Essen, Trinken und Medikamente. Machtlos und hoffnungslos…

Auf dem Zifferblatt einer der Uhren habe ich einst eine alte römische Spruchweisheit gelesen: „Tempus nascendi – tempus morendi, die Zeit des Geborenwerdens ist die Zeit des Sterbens“. Dieser Satz rührt mich immer wieder an. Denn in einem jeden Neugeborenen, und mag es auch hundert Jahre alt werden und seine Lebensdynamik vorerst alles Sterben überdecken, ist der Tod schon gegenwärtig, und zwar in allen Gewebetypen seines Körpers. Aber man kann diesen Satz auch wie eine Gleichung verstehen: Die Zeit des Geborenwerdens ist die Zeit des Sterbens. Für diese Aussage gilt dann das mathematische Gesetz: Wenn A gleich B ist, dann ist B gleich A.

Am 24. August 1994 hat die Ukraine zum zweiten Mal in ihrer Geschichte ihre Unabhängigkeit proklamiert. 1919, nach dem Ersten Weltkrieg, wurden alle Hoffnungen auf Souveränität aufgegeben und das Land wurde in die Union der Sowjetrepubliken gezwungen. Ist der Tag der Unabhängigkeitserklärung der Ukraine gleichzeitig der Tag ihres Sterbens? Will Gott die Ukrainer ohne Ukraine sehen? Haben wir es nicht verdient, nach so vielen Jahren der Unterdrückung frei zu sein? Warum hat Gott dieses Leid und Elend überhaupt zugelassen? Ist Gott ungerecht, fragen sich da manche. Ich muss ehrlich eingestehen, dass mein Glaube tatsächlich auf dem Prüfstand steht. Denn auf diese Fragen habe ich als Theologe keine Antwort. Trotz alledem will ich hoffen und glauben, dass Gott kein ungerechter, sondern ein fürsorglicher Gott ist, der die Ukraine in seinen Schutz nimmt.

Freiheit ist außerdem mit der Fastenzeit verbunden. Denn sowohl der freiwillige Verzicht auf Fleisch, Eier, Milchprodukte, Süßigkeiten, als auch das Ablegen von schlechten Gewohnheiten oder Verhaltensmustern, bringt Unabhängigkeit von Sucht, Neigungen und Lastern mit sich.

Das Leben bei Gott ist keine Rückkehr in dieses Leben, kein armseliger Nachschlag auf die Ration Leben, die wir erleben und erleiden, verkosten und verlieren. Das Leben bei Gott ist beispiellos und unvergleichlich. „Was kein Auge gesehen und kein Ohr gehört hat, was in keines Menschen Herz gedrungen ist, das hat Gott denen bereitet, die ihn lieben“ (1Kor 2,9). Was könnte dieses Leben bei Gott auszeichnen? Freiheit. Freiheit von Leid, Krankheit, Anhänglichkeit, Sucht, Schwäche, Alterung usw. Jedes Mal wenn wir Christen fasten und uns in dieser Freiheit üben, erleben wir den Vorlauf des Lebens bei Gott. In der Fastenzeit kommt somit das Irdische mit dem Himmlischen in Berührung.

Ich wünsche Ihnen allen eine gesegnete Fastenzeit!
Ihr Yaroslav Kryzhanovskyy, Pastoralassistent


Im Titelbild ist ein Moment der Trennung fixiert: Eine Frau fährt mit ihrem Kind weg, während der Mann bleibt, aufgrund des Kriegszustandes. Im Hintergrund ist das durch die Bomben ausgelöste Feuer zu sehen.

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